Den Lebensrucksack leichter machen

Anne-Barbara Kern hilft hochsensiblen Menschen, in ihre Energie zu finden, damit sie sich wohl fühlen, ihr Potenzial auf die Erde bringen und die Anerkennung bekommen, die sie verdienen. Sie arbeitet als Coach für Hochsensible und betreibt die Internetseite hochsensibelsein.de


Wie war Ihr beruflicher Werdegang, seit wann wissen Sie, dass Sie hochsensibel sind und wodurch?


Eigentlich wusste ich schon immer, dass ich so etwas wie hochsensibel bin. Ich hatte nur keinen Begriff dafür und wusste nicht, dass es sich dabei um ein Phänomen handelt, das 20 Prozent aller Menschen betrifft! Das wurde mir erst 2011 klar, als ich in meiner Ausbildung zur Mediatorin steckte und wir Teilnehmer uns deswegen noch einmal intensiv mit uns selbst auseinandergesetzt haben. Zuvor dachte ich, ich sei eben komplett anders als andere und muss mir Lösungen überlegen, wie ich in dieser Welt, die so gar nicht für mich gemacht schien, zurechtkomme. Das war nicht ganz so leicht, weshalb ich vieles ausprobiert habe.


Zunächst startete ich mit einem BWL-Studium in mein Erwachsenenleben. Nach dem Vordiplom war klar, dass die dort propagierte "Gewinnmaximierung" nicht zu meinem Lebensinhalt werden kann. Danach machte ich eine Ausbildung zur Heilpraktikerin, die ich auch abgeschlossen habe. Doch bereits während dieser Zeit wurde klar, dass ich zu feinfühlig war, um mit Kranken zu arbeiten. Es raubte mir so viel Energie, dass ich höchstens zwei Patienten pro Tag hätte behandeln können. Also habe ich mich gegen diesen Werdegang entschieden.


Ich habe mich dann als Gesangslehrerin und Chorleiterin selbständig gemacht, was auf dem Lande, wohin es mich damals verschlagen hatte, eine Marktlücke darstellte. Bis zum plötzlichen Tod meines ersten Mannes 1999 führte ich ein geruhsames, zurückgezogenes Leben.


Doch dann wurde alles anders: Ich stand ohne Mann und ohne abgeschlossene Berufsausbildung da. Also begann ich mit einem Studium der Grundschulpädagogik und Musik in der Nachbarstadt, und arbeitete nebenbei weiter als Gesangslehrerin und Chorleiterin. Doch bereits nach zwei Semestern stellte sich heraus, dass auch das nicht passte. Ich wechselte in die Geisteswissenschaften und studierte Philosophie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte.


In der Kunstgeschichte ergab sich gegen Ende meines Studiums die Möglichkeit zu promovieren. Während dieser Zeit knüpfte ich Kontakte, die es mir erlaubten, nach meiner Promotion direkt als freiberufliche Kunsthistorikerin weiter zu arbeiten. Ich hatte einige interessante Projekte...


In dieser Zeit war ich immer wieder auch Beraterin und Streitschlichterin für meine Auftraggeber. Dies inspirierte mich dazu, eine Ausbildung zur Mediatorin zu machen. Das fand ich so interessant, dass ich das weiter verfolgt habe und mehrere Coaching-Ausbildungen folgen ließ.


Anfangs fuhr ich noch zweigleisig, aber es kamen immer mehr Klienten, besonders als ich mich durch meinen Blog endlich getraut habe, mich als hochsensibel zu outen und mich als Coach für hochsensible Menschen zu positionieren. Seit 2014 bin ich ausschließlich als Coach tätig.


Gibt es Ihrer Meinung nach bestimmte Berufe, die besonders für Hospeas geeignet sind?


Nach meiner Erfahrung können sie alle Berufe ergreifen. Wichtig ist, dass man seine Gabe in diesen Beruf auch einbringt, denn das ist letztlich das, was zufrieden macht. Denn Hochsensibilität bringt nicht so sehr die Veranlagung für bestimmte Berufe mit sich, sondern eher eine spezielle Herangehensweise, die, egal in welchem Beruf, gründlicher, genauer, nachhaltiger ist.


Des weiteren ist es von Bedeutung, sich in der Ausübung des Berufes nicht an der Mehrheit zu orientieren, sondern der eigenen Veranlagung gerecht zu werden. Hochsensible sind qualitativ leistungsfähiger als andere, das heißt sie können oftmals Probleme lösen, an denen andere scheitern. Quantitativ sind sie aber weniger leistungsfähig, wir können nicht acht Stunden am Stück Probleme lösen, die kein anderer lösen kann.


Wichtig ist es, sich kleine Freiräume zu erobern, vier kleine Pausen à fünf Minuten und eine große von fünfzehn bis zwanzig Minuten täglich einzuhalten, in denen man wirklich abschaltet. So kann unser Nervensystem sich immer wieder regenerieren. Dies ist übrigens keine Zeitverschwendung, denn wir arbeiten so effizienter und holen die versäumte Zeit locker wieder auf.



Sie helfen Hochsensiblen als Coach, ihre Mitte zu finden. Wie machen Sie das?


Mein Einzelcoaching-Programm besteht aus drei Schritten. In Schritt eins nehmen wir eine Alltagsoptimierung vor, um eine schnelle Entlastung zu erreichen. Außerdem gibt es hier Ernährungstipps für ein stabiles Nervensystem und die dafür nötigen Nahrungsergänzungsmittel.


In Schritt zwei geht es darum, was der/die jeweilige Klient/in an Themen mitbringt. Hochsensible leiden mehr unter ungünstigen Erlebnissen in der Vergangenheit. Gemeinsam holen wir die schwersten Wackersteine aus dem Lebensrucksack und lösen diese auf. Dafür habe ich verschiedene Coaching-Tools zur Verfügung, und wir suchen das aus, was beim Einzelnen jeweils am besten funktioniert. Ebenso zu Schritt zwei gehört, dass wir Lösungen für bestimmte Probleme, die sich aus der Hochsensibilität ergeben, finden. Vielleicht fällt jemandem das ein oder andere schwer, oder bekommt irgendetwas nicht so hin, wie er/sie das gern möchte.


In Schritt drei ist dann der Weg für eine Ziele-Arbeit frei. Denn wenn der Lebensrucksack leichter ist und man alle Schwierigkeiten mit der eigenen Veranlagung gelöst hat, traut man sich bei weitem mehr zu als zuvor. Wir sammeln die Ziele der jeweiligen Person, ordnen sie nach einem bestimmten System und am Ende gibt es noch einige wichtige Coaching-Tools, wie man diese Ziele leichter und schneller erreicht.


Was mir besonders wichtig ist, ist, dass meine Klienten am Ende eine Werkzeugkiste zur Verfügung haben, mit deren Hilfe sie eigenständig ihren weiteren Weg meistern können. Mein Ziel ist es also, mich selbst überflüssig zu machen. :-)

 

Sind Hochsensible besonders anfällig für Süchte? Betäuben Sie ihre Reizüberflutung zum Beispiel mit Alkohol?

 

Ich denke, das erfordert eine genauere Differenzierung. Es gibt zum Beispiel Hochsensible, die so empfindlich auf Substanzen reagieren, dass sie noch nicht einmal Kaffee trinken (zu dieser Sorte gehöre übrigens auch ich). Ich erlebe aber ebenso Klienten, die jahrelang nicht gewusst haben, was mit ihnen los ist, und die dann tatsächlich zu Alkohol, Cannabis und Antidepressiva gegriffen haben, weil sie sich anders nicht zu helfen wussten.

 

Alkohol, Cannabis und andere Drogen stellen dann so eine Art Selbstmedikation dar, die aber leider auch Nachteile hat. Besser ist es, Techniken zu erlernen, mit deren Hilfe man im Positiven das Gleiche erreicht, und die einen langfristig gesund erhalten.


Es gibt leider immer wieder Hochsensible, die zu Antidepressiva greifen, obwohl sie nicht depressiv sind, sondern einfach nur hochsensibel. Das ist dann auch nichts anderes, nur ärztlich verordnet. Und diese Antidepressiva haben ebenfalls unerwünschte Nebenwirkungen und sind langfristig schlecht für den Körper. Ich habe schon mehrfach Hochsensible dabei begleitet, ohne Antidepressiva auszukommen. Das ist gut möglich, wenn man die Problematik kennt und entsprechende Techniken lernt.


Parallel dazu kann man das Nervensystem über die Ernährung und bestimmte Nahrungsergänzungsmitteln so aufbauen, dass am Ende auf Drogen und Antidepressiva leicht verzichtet werden kann.


Was raten Sie Hochsensiblen, die immer wieder zwischen Überforderung und Langeweile geraten, wie können Sie in eine Balance kommen?


Ich denke, das Problem tritt bei introvertierten Hochsensiblen gar nicht auf, weil sie sich nicht so leicht langweilen. Elaine N. Aron, die Begründerin der Hochsensibilitätsforschung, hat aber herausgefunden, dass es auch einen gewissen Prozentsatz an extrovertierten Hochsensiblen gibt, ebenso einen gewissen Anteil an abenteuerlustigen "Sensation Seekers".


Wer so tickt, hat tatsächlich das Problem, dass der Grat zwischen Langeweile und Reizüberflutung recht schmal ist. Wenn einem das bewusst ist, kann man seine Abenteuer als Sensation Seeker besser planen. Man sollte dann Abenteuer bevorzugen, denen man nicht ausgeliefert ist, sondern die man ggf. unterbrechen kann, so dass Raum zur Regeneration bleibt.


Extrovertierte Hochsensible sollten darauf achten, auch in Gesellschaft für Rückzugsmöglichkeiten zu sorgen, die sie zwischendurch in Anspruch nehmen können. Ist man zum Beispiel als Bühnenkünstler/-in unterwegs, wäre es beispielsweise sinnvoll, bei Proben genügend Pausen einzuhalten, nach Auftritten fünf Minuten für sich zu bleiben und sich nicht gleich in Gespräche mit dem Publikum zu stürzen et cetera. Kleine Maßnahmen reichen da oft schon aus. Es ist einfach wichtig, in diesen Fällen gut auf sich zu hören und schon im Ansatz zu handeln.


Zwei Drittel aller hochsensiblen Frauen haben angeblich keine Kinder. Warum? Was denken Sie?


Ist das tatsächlich so? Auch ich habe keine Kinder, weil ich mich damit absolut überfordert gefühlt hätte.

 

In meinen Coachings habe ich es immer wieder mit Müttern zu tun, die ihren sehnlichen Kinderwunsch erfüllt haben und dann ziemlich verzweifelt sind, wie anstrengend es wird, wenn man nicht mehr die Möglichkeit hat, sich zurückzuziehen, sondern immer ansprechbar sein muss. Spätestens beim zweiten Kind kann es (nicht nur!) für Hochsensible ungemütlich werden! Man kann ein Kind eben nicht darum bitten, später weiter zu schreien, weil man gerade reizüberflutet ist und eine Pause braucht...


Zum Glück habe ich auch diesen hochsensiblen Müttern immer gut helfen können. Doch zu der Zeit, als das Thema Kinder für mich aktuell gewesen wäre, habe ich über dieses Wissen noch nicht verfügt, und da wäre es mir sicherlich genauso ergangen. Von daher bin ich zufrieden so, wie ich mich entschieden habe.


Thema Wechseljahre und Hochsensibiltät, verstärken sich dadurch die Probleme? Ihrer Meinung und Erfahrung nach?

 

In den Wechseljahren kommt es grundsätzlich zu einer Steigerung der Empfindsamkeit. Grund dafür ist, dass der Östrogenspiegel abnimmt, und Östrogen desensibilisiert. Der biologische Sinn dahinter ist, dass wir Frauen auf diese Weise Mann und Kinder besser ertragen können. Wenn der Östrogenspiegel abnimmt, lässt die damit verbundene Desensibilisierung nach. Das kann das Beziehungsgeflecht in der Familie ganz schön aus dem Gleichgewicht bringen!
Wichtig ist, bewusst damit umzugehen und gegebenenfalls Dinge neu zu verhandeln, die man bisher eben noch ertragen hat. Wenn das geschafft ist, fühlt man sich wieder genauso wohl wie vorher auch.

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